Am Mittwoch, 2. Dezember 2020 gegen 11 Uhr vormittags begann es zu schneien. Ich lebe seit beinahe zwölf Jahren in Osttirol, habe noch die Winter der 60er und 70er Jahre im kontinental geprägten Klima Wiens miterlebt, mit ausgiebigem Schneefall von 40 cm in einer Stunde. Aber was jetzt begann übertraf alles Erlebte: die Wetterprognose verhieß nichts Gutes. Normalerweise schneit es in Osttirol ca. 300 cm in einem Winter.
Die Nächte auf 1100m Seehöhe, sonnseitig, waren kalt gewesen, der Boden also bereits gefroren in den höheren Schichten, weshalb der Schnee auch sofort liegen bleiben würde.
Ich erinnerte mich an die großen Unglücke der letzten Jahre, mit tagelangem Sturm von 150km/h, Starkschneefall, Baumstürzen, Stromausfällen bis zu 48 Stunden etc. Das war schon damals nicht lustig gewesen. Jetzt aber war dieses "Genuatief", das regelmäßig ausgiebig Feuchtigkeit über die Lienzer Dolomiten, traditionell die "Unholden" im Volksmund genannt, bringt, schon Tage voraus angekündigt, sodaß genug Zeit blieb um alles vorzubereiten.
Ich hatte auf 11h noch eine Ladung Holz bestellt, um es warm zu haben und fuhr vorher noch schnell hinunter in den Lienzer Talboden um meine Vorräte aufzustocken. Erfrieren und verhungern würde ich mit einem Kachelofen und Gasherd jedenfalls nicht. Bereits um 10:45 lag das Holz in einem großen Haufen hinter meinem Haus. Ich begann sofort es aufzuschlichten, aber es war nicht mehr möglich vor Einbruch der Dunkelheit alles trocken unterzubringen. Der Schneefall setzte ein, anfangs fein aber mit der Zeit wurde er stärker und stärker. Er bedeckte die Scheite auf dem Boden und mir froren die Finger ein. Als es dunkel wurde, gab ich auf und ging ins Haus um einzuheizen.
Bis abends schneite es ununterbrochen. Am nächsten Morgen lag das Holz unter einer dicken weißen Decke verborgen.
Es war eine bedrohliche Schönheit, die da den Müll und die Zerstörung der Natur zudeckte, unseren Blicken entzog und unter sich begrub. Eigentlich hätte es gnädig sein können. Der Mantel des Vergessens über das ganze Unheil und die Verschmutzungen unserer Zeit gebreitet. Der Schnee als kristalline Form des Wassers, der gefrorenen Bereinigung ging es mir durch den Kopf. Hoffentlich bleiben wir verschont: ich begann zu beten.
Es schneite unaufhörlich weiter. Ich erinnerte mich an die umgestürzten Bäume und Maste der letzten beiden Jahre, die tagelang das Stromnetz außer Betrieb setzten und bis in den Sommer hinein weg geräumt werden mußten.
Ich liebe es, so nahe an dieser gewaltigen Natur - es gibt 240 3000er in Osttirol - zu sein. Um hier gut leben zu können, muß man annehmen, komplett ausgeliefert in und mit der Natur leben zu müssen, anstatt dagegen, nicht den eigenen Kopf durchzusetzen, ansonsten man schnell weg geräumt wird. Aber diesmal hatte alles eine besondere Note: der 2- monatige Lockdown, mit Ausgangssperre und dem Eingesperrtsein im Dorf, sowie seit 3. bzw. 17. November abermals, waren schon schwer gewesen zu ertragen. Aber damals waren meine Söhne hier gewesen, jetzt war ich ganz alleine...
In mir betete es, als ich ins Bett ging. Wie immer öffnete ich vorher weit das Fenster und machte in der Kälte meine Kniebeugen, um den Parasympathicus zu aktivieren und blickte hinaus auf den Hang in das dichte Schneegestöber. Der Berg hinter mir, der Stronach Kogel war 2000m hoch, beinahe unbewaldet und begann direkt hinter meinem Haus. Würde der Berg halten, würde der Schnee liegen bleiben? Leise schneite es immer dichter und dichter. Unaufhörlich. Ich blickte nach unten, mein Holzhaufen war trotz Dachvorsprung verschwunden. Ich spürte jetzt diese Ausgeliefertheit tief in mir drinnen. Es war eine tödliche Bedrohung, auf die ich keinerlei Einfluß zu nehmen in der Lage war. Es war die totale Hilflosigkeit, der ich vollkommen ausgeliefert war.
Wer hält uns? dachte ich, wer beschützt uns? Ich rief alle Erzengel um Hilfe an, dankte daß mir nichts geschehen war bisher und ich im warmen Haus sitzen konnte und bat um Schutz vor den gewaltigen Schneemassen. Dann ging ich schlafen. Ich schlief tief und fest.
Am nächsten Morgen traute ich meinen Augen nicht. Alles war weiß, so weit das Auge reichte. Und so ging es dann auch den ganzen nächsten Tag weiter. Ich ging nicht mehr hinaus, denn ich hatte mir einen Holzvorrat ins Haus herein gebracht, kochte und dann geschah etwas Bemerkenswertes, Einmaliges:
In mir stieg eine Zeitlosigkeit, eine Gelassenheit und Ruhe auf, die die Wahrnehmung der ganzen Coronazeit bei weitem übertraf. Schon in diesen Monaten der erzwungenen Untätigkeit im Frühjahr und Herbst in meinem Veganen Gasthof zum Ederplan hatte sich in mir diese Empfindung bemerkbar gemacht. Das ganze Tätigsein der letzten Jahrzehnte war plötzlich unterbrochen. Es fiel einfach von mir ab. Ich durfte nicht mehr arbeiten, hatte es nicht verursacht und konnte auch nichts dagegen tun. Ich war völlig auf mich beschränkt, völlig ohne Außenkontakte. Dieses Nicht-mehr-arbeiten-können war in seiner Wirkung wirklich bemerkenswert. So wie mir ging es jetzt vielen Menschen, die auf sich selbst zurück geworfen worden waren. Familien, die plötzlich Tag und Nacht zusammen leben mußten. Kinder die wieder in die Obhut ihrer Familien gelangten. Was geschieht da mit uns? dachte ich.
In der 2. Nacht begann es zu regnen. Es schüttete, als würden sich die Schleusen des Himmels öffnen. Der ganze frisch gefallene Schnee wurde dadurch auf die Hälfte einreduziert. Anschließend schneite es dann bis Montag ununterbrochen weiter. Gegen Mittag hörte es auf, dann endlich, gegen Abend, fuhr der Schneepflug und ich ging hinaus um die Lage zu inspizieren.
Mein Auto war vollkommen eingeschneit. Ich arbeitete 1 Stunde, dann war es frei und ich fuhr zum Friseur, denn die Ausgangssperre war ab 7. Dezember aufgehoben!
Danach fuhr ich sofort nach Hause. Es hatte wieder zu schneien begonnen. Die Glockner Bundesstrasse B107 war bereits schneebedeckt als ich von Lienz hinauf fuhr. Ich stellte mein Auto ab, leider draussen...
Es schneite dann nochmals zwei Tage weiter. An ein Befahren der Strassen war nicht zu denken, die Täler waren seit einer Woche ohne Strom, Lawinen hatten die Strassen verschüttet, alles war dick zugeschneit, an Autofahren war nicht zu denken: die Menschen warteten.
Als es am Mittwoch zu schneien aufhörte, schaufelte ich nochmals mein Auto aus und stellte es entnervt in meinen Stadelvorbau.
Am Samstag den 12. Dezember brach endlich die Sonne durch und verwandelte alles in ein glitzerndes Paradies!
Die Ruhe hat sich in mir ausgebreitet. Der Strom ist nur kurzzeitig ausgefallen und der Berg hat gehalten. Geblieben ist diese einwöchige Erfahrung einer Bedrohung, vor der es keine Möglichkeit zur Flucht gibt. Es hatte innerhalb von 7 Tagen mehr als 300 cm und damit soviel wie in einem ganzen Winter geschneit und geregnet. Alle Strassen nach Osttirol waren tagelang gesperrt, es herrschte akute Lawinengefahr der Warnstufe 5. All das mußte ertragen und ausgehalten werden um zu innerer Sicherheit und Frieden in sich zu finden.
In mir hatte sich in dieser Woche eine gleitende Zeitlosigkeit ausgebreitet. Es fühlte sich an wie ein Schweben. Es war ein Herausgehobenwerden aus den alltäglichen Pflichten und Zusammenhängen. Die Zeit schien vollkommen irrelevant, ja nicht existent.. Die Tage glitten dahin und ich lebte einfach im Augenblick des Jetzt. Ich hatte alles, was ich brauchte. Nahrung, ein Dach über dem Kopf, Licht und Wärme. Mit fehlte nichts - dies war eine merkwürdige Empfindung in dieser Situation der 100% Isolation und Abgeschiedenheit. Völlig paradox eigentlich, dachte ich, eigentlich "müßte" ich doch Not, Angst, Bedrängnis spüren. Aber nichts dergleichen war spürbar. Da war diese gewaltige Bedrohung durch die Natur und gleichzeitig ein behagliches und geborgenes Gefühl in mir. Als es endgültig zu schneien aufhörte und ich erstmals das Haus verließ, da tat es mir fast leid, daß diese Schneeisolation jetzt zu Ende war.
Der Frieden in mir aber - der ist geblieben.
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